Grundgesetz mit Justitia-Figur im Hintergrund
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Verfassungsviertelstunde an Schulen: Was in Bayern geplant ist

Eine wöchentliche Verfassungsviertelstunde soll Schülern Demokratie näherbringen. So steht es im Koalitionsvertrag von CSU und Freien Wählern. Was genau ist geplant? Und: Kann das überhaupt funktionieren?

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Morgenimpuls statt Morgengebet: Die Idee kommt ursprünglich vom Landesverein für Heimatpflege. Der hatte im September vorgeschlagen, mit einem "Morgenimpuls für Gemeinsinn" in den Unterricht zu starten. CSU und FW haben den Gedanken aufgegriffen und eine "wöchentliche Verfassungsviertelstunde" im Koalitionsvertrag verankert. Das Ziel: mehr politische Bildung an den Schulen. Die neue Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) soll sich nun um die Umsetzung kümmern. Was ist geplant und wie soll das funktionieren? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie soll so eine Verfassungsviertelstunde ausschauen?

Eine Debatte über einen Artikel der Bayerischen Verfassung, der Besuch beim Bürgermeister oder eine fiktive Stadtratssitzung als Rollenspiel: Kultusministerin Anna Stolz will möglichst offen an die Sache herangehen und kann sich Vieles vorstellen. Details, wie so eine Verfassungsviertelstunde konkret aussehen soll, gibt es laut Kultusministerin noch nicht. Stolz arbeitet an der Ausgestaltung und sagt nur so viel: Es soll ein "flexibles, lebendiges und alltagsnahes Konzept" werden. Das will sie in den kommenden Monaten mit Eltern, Lehrern, Schulleitungen und Verbänden ausarbeiten.

Wichtig dabei: Die Verfassungsviertelstunde soll es laut Stolz an allen Schulen geben, von der Grundschule bis zur Abschlussklasse. Denn Werteerziehung und Demokratiebildung seien auch schon für jüngere Schüler wichtig. Es gebe da viele altersgerechte Möglichkeiten - von der Wahl des Klassensprechers bis hin zu Fairplay-Regeln in der Sportstunde.

Wann soll es losgehen?

Ab kommendem Schuljahr soll es an den bayerischen Schulen eine Verfassungsviertelstunde geben. Das Konzept soll bis zum Frühsommer stehen. Stolz möchte sich für das Projekt Zeit nehmen, um "konzeptionell gut und sauber" zu arbeiten. Kein Schnellschuss, so die FW-Politikerin. In den kommenden Wochen möchte sie durch Bayern reisen, Schulen besuchen und Ideen und Meinungen sammeln.

Wer soll unterrichten?

Keine "Spezialisten", sondern alle Lehrer sind nach Ansicht des Kultusministeriums gefragt. Sie sollen im Rahmen ihres Unterrichtsfachs die verschiedenen Verfassungswerte thematisieren. So könne die Verfassungsviertelstunde auch dann stattfinden, wenn ein Lehrer krank sei, weil ein Kollege ganz einfach übernehmen könne. Es soll auch kein bestimmtes Fach dafür gekürzt werden.

Ziel sei stattdessen "eine harmonische und flexible Einbettung" in das Fächerspektrum der einzelnen Schularten. Es gebe in allen Fächern die Möglichkeit auf Grund- und Menschenrechte und die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzugehen. Um Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen, möchte das Kultusministerium Materialien und Fortbildungen anbieten.

Wer war Ideengeber?

Es war eine kleine Überraschung. Die Idee des Landesvereins für Heimatpflege war schon fast wieder vergessen, da tauchte sie plötzlich wieder auf: im Koalitionsvertrag von CSU und Freien Wählern. Ministerpräsident Markus Söder erklärte, es gehe nicht um "Institutionen-Lehre", sondern "um praktische Anwendung von Demokratie".

Gereift sei das Vorhaben durch die U18-Wahlen, bei der die AfD stark abschnitt. Hinzu kommt: Derzeit wird viel über einen Rechtsruck der Gesellschaft, zunehmenden Extremismus und Antisemitismus diskutiert. Das macht das Thema Demokratieerziehung und Wertebildung besonders aktuell.

Hat Bayern Nachholbedarf?

Bayern ist Schlusslicht bei der politischen Bildung. Zumindest laut einer Studie der Universität Bielefeld. Dort messen Wissenschaftler seit 2017, welchen Stellenwert Sozialkunde an den Schulen einnimmt. Im aktuellen Ranking heißt es: "Die drei Bundesländer, die beim Gymnasium, und bei den nichtgymnasialen Schulformen am wenigsten politische Bildung vorsehen, bleiben immer dieselben."

Gemeint sind Thüringen, Rheinland-Pfalz und Bayern. Das bayerische Kultusministerium verteidigt sich: "Den Stellenwert der politischen Bildung lediglich aus einem Fach abzuleiten, greift zu kurz." In Bayern komme politische Bildung fächerübergreifend und auch projektbezogen vor.

Trotzdem sieht sich auch der Freistaat in der Pflicht. "Antisemitismus und Extremismus nehmen erschreckenderweise in diesen Tagen deutlich zu", sagt Kultusministerin Stolz im Interview mit BR24. Es sei daher wichtig, "ein Bewusstsein zu schaffen, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist".

Wie sinnvoll ist eine Verfassungsviertelstunde?

Während die Koalition aus CSU und FW die Verfassungsviertelstunde befürwortete, kommt Kritik aus der Wissenschaft: Klaus Zierer, Pädagogikprofessor an der Universität Augsburg, hält eine Verfassungsviertelstunde nicht für den richtigen Weg. Die könne höchstens ein Teil eines größeren Konzepts sein.

Zierer sieht dringenden Handlungsbedarf. "Schule ist nach der Familie die zweitwichtigste Institution in der Gesellschaft", gibt der Pädagoge zu bedenken. Die Schule habe einen klaren Erziehungsauftrag. "In der Bayerischen Verfassung steht, die Schule muss nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden", sagt Zierer. Und genau das passiere an bayerischen Schulen noch zu wenig. Es gehe viel zu viel um Pisa-Studien und Mint-Fächer und zu wenig um Werteerziehung.

Der Schlüssel: Demokratie- und Werteerziehung muss laut Zierer im Schulalltag erlebbar sein, auf allen Ebenen: strukturell, im Unterricht, im Zusammenleben. Das gehe von der Klassensprecherwahl über eine regelmäßige Presseschau bis hin zum Besuch einer KZ-Gedenkstätte.

Was hält die Opposition von den Plänen?

Auch die Opposition plädiert für mehr politische Bildung an den Schulen. Eine Verfassungsviertelstunde, kommt bei AfD, Grünen und SPD aber nicht gut an. Martin Böhm (AfD) geht davon aus, dass vielen Schülern der "persönliche Zugang zu den Gegebenheiten unserer Verfassung" fehlt – allein wegen fehlender Sprachkenntnisse. Eine Verfassungsviertelstunde sei daher nicht "das richtige Instrument". An sich sei es aber wichtig, Kindern beizubringen, dass es nicht nur gesellschaftliche Rechte gebe, sondern auch Pflichten.

Katharina Schulze (Grüne) spricht von einer "Druckbetankung". Eine Viertelstunde sei viel zu kurz für Wertebildung und Demokratie-Erziehung. Es brauche mehr Zeit und mehr Personal. Der Vorschlag der Grünen: Es müsste ein Schulfach Politik geben, von Anfang an, nicht erst ab der neunten oder zehnten Klasse.

Die bildungspolitische Sprecherin der SPD, Nicole Bäumler, bezweifelt, dass eine Viertelstunde pro Woche für mehr Demokratieerziehung reicht. Sie fordert ein fundiertes Konzept, zudem dürfe daraus keine Zusatzaufgabe für Lehrer werden.

Welche Erfahrungen machen Schulen mit Demokratieerziehung?

Wenn es eine Schule gibt, die dazu etwas sagen kann, dann die Mittelschule in Karlsfeld. Sie hat den ersten Platz bei einem bundesweiten Demokratie-Wettbewerb bekommen. Sie fördere vorbildlich "demokratische und inklusive Prozesse", heißt es in der Begründung der Jury. Dabei geht es vor allem um gelebte Demokratie an der Schule. Für Konrektorin Barbara Lauterbach ist Mitbestimmung das A und O. "Die Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrkräfte – wir gehen lieber in die Schule, wenn jeder seine Meinung sagen darf und jeder mitbestimmen kann." Es gibt nicht nur eine Schülermitverwaltung und Klassensprecher, sondern auch einen regelmäßigen Klassenrat.

Im Klassenrat stimmen die Schüler über Projekttage ab oder über Verhaltensregeln auf dem Gang – je nachdem, was gerade anliegt. Schülerin Carina aus der 8. Klasse freut sich, dass sie dann über Sachen reden, "die sie interessieren". Ihre Freundin Erza "liebt es zu diskutieren und anderen zuzuhören". Da könne man dabei auch lernen, sich gegenseitig zuzuhören und die anderen ausreden zu lassen. Und Idriz schätzt am Klassenrat besonders, dass dann eine Mehrheit bestimmt und nicht einer allein. Lehrerin Barbara Lauterbach kann sich so einen Klassenrat auch für die Verfassungsviertelstunde vorstellen, wünscht sich dafür vom Kultusministerium aber ein "ordentliches Konzept", das auch zeitlich flexibel ist – also auch mal länger sein kann als eine Viertelstunde.

Im Video: Bayern führt Verfassungsviertelstunde an Schulen ein

Weil Demokratie-Feindlichkeit auch vor den Schultoren nicht Halt machen, hat die bayerische Regierung die Verfassungs-Viertelstunde eingeführt.
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Weil Demokratie-Feindlichkeit auch vor den Schultoren nicht Halt machen, hat die bayerische Regierung die Verfassungs-Viertelstunde eingeführt.

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